Ronja Brockmeyer, 8. Mai 2023
Abduweli Ayup ist ein uigurischer Aktivist, der in Bergen, Norwegen, lebt und sich für die Rechte der uigurischen Gemeinschaft einsetzt. Sein Bruder soll sich derzeit in einem Internierungslager befinden. Ich habe mit Abduweli Ayup gesprochen, um mehr darüber zu erfahren, wofür er kämpft.
RB: Wo sind Sie gerade und was machen Sie gerade?
Ayup: Ich bin zur Zeit in Bergen, Norwegen. Ich führe eine Fernrecherche über verhaftete und verurteilte uigurische Intellektuelle und weitere Uigur*innen in Haft durch und sammle Informationen über ihre Arbeit und die Dauer ihrer Haftstrafe. Millionen von Menschen wurden verhaftet, aber wir kennen ihre Namen nicht und wissen nicht, wer sie sind. Man versucht, die Zahl der vermissten Uigur*innen zu ermitteln. Ich gebe dieser Zahl Gesichter.
RB: Nach Abschluss Ihres Masterstudiums kehrten Sie nach Xinjiang zurück und eröffneten eine Schule, um die uigurische Sprache zu unterrichten. Später im Jahr 2013 wurden Sie dann verhaftet. Was hat Sie dazu bewogen, nach Xinjiang zurückzukehren und zu unterrichten, und wie hat sich diese Entscheidung auf Ihr Leben ausgewirkt?
Ayup: Nach der Geburt meiner Tochter habe ich versucht, einen Kindergarten für sie zu finden, und dann habe ich gemerkt, dass es keinen Kindergarten gibt, der die uigurische Sprache lehrt, die Kindergärten lehren nur die chinesische Sprache und Kultur. Uigur*innen haben Literatur, Musik und Wissen. Ich wollte nicht, dass diese schöne Kultur verschwindet. Das Sprechen der uigurischen Sprache in Bildungseinrichtungen ist untersagt. Allerdings habe ich herausgefunden, dass es legal ist, die uigurische Sprache für junge Kinder auf Kinderniveau zu unterrichten. Also gründete ich einen uigurischen Kindergarten, um Kindern die uigurische Sprache beizubringen.
Abduweli Ayup
RB: Wo sehen Sie die Verbindung zwischen Bildung und Kultur? Und warum denken Sie, dass die Weitergabe von Sprache und Kultur wichtig ist?
Ayup: Bildung ist ein Instrument zur Weitergabe von Kultur. Die Sprache ist der Kern einer Kultur. Sobald man eine Sprache benutzt, wird sie zu dem Werkzeug, mit dem man die Welt betrachtet. Schon im Kindergarten werden die Kinder gelobt, wenn sie Chinesisch sprechen. Wenn sie hingegen in der uigurischen Sprache sprechen, werden sie als dumm bezeichnet. Ich habe in Kashgar ein uigurisches Mädchen getroffen, das seine Sprache verloren hatte. Sie weigerte sich, im Unterricht zu sprechen, und der Lehrer zog an ihrer Zunge. Daran erinnere ich mich noch gut. In der gesamten Region gibt es keine Sprachtherapeut*in, was tragisch ist, da viele Kinder aufgrund traumatischer Erlebnisse in der Schule diese Erfahrung machen. Es ist herzzerreißend.
RB: Glauben Sie, dass es eine Zukunft mit gleichen Chancen und gleicher Bildung für Uigur*innen gibt?
Ayup: Das hängt davon ab, wie wir kämpfen, wie ehrlich wir sind, wie entschlossen wir sind. Es hängt davon ab, wie ehrgeizig wir sind. China verstößt sowohl gegen die UN- Kinderrechtskonvention sowie gegen die UN-Völkermordkonvention. Wenn die UN weiterhin schweigt, halte ich einen Wandel für eher unwahrscheinlich.
© Molly Crabapple
RB: Viele Quellen haben von den schrecklichen Ereignissen in Xinjiang und den Internierungslagern sowie den Hausarresten berichtet. Wann waren Sie das letzte Mal in China? Und welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ayup: Das letzte Mal war ich im August 2015 dort. Damals hat die chinesische Regierung uigurische Viertel mit einer Mauer umbaut. Es gab ein Tor, an dem man seine ID-Karte durchziehen musste, wenn man hinein- und hinausging. Sie verfolgen, was die Menschen tun. Wohin sie gehen, was sie essen usw. Man darf auch keine Gruppe von mehr als zehn Uigur*innen zusammenbringen. Wenn man das tun möchte, muss man eine Erlaubnis von den Behörden einholen. Als Uigur*in hat man einen besonderen Ausweis. Das ist so etwas wie eine Greencard für Uigur*innen. Man muss diesen Ausweis überall vorzeigen, wo man hingeht. Wenn man als Uigur*in mit dem Auto fährt, muss man einen bestimmten Kontrollpunkt passieren, als Han-Chines*in muss man das nicht. Es gibt alle hundert Meter einen Kontrollpunkt. Und sie kontrollieren auch die Telefone.
© Molly Crabapple
RB: Ihr Bruder, Erkin Ayup, soll sich in einem Internierungslager befinden. Laut Amnesty International wurde Ihnen im Mai 2021 mitgeteilt, dass er zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Bruder gesprochen, und wissen Sie etwas über seine aktuelle Situation?
Ayup: Das letzte Mal habe ich im April 2015 mit ihm gesprochen. Ich habe von seiner Verurteilung durch Freunde und die Medien erfahren. Er sitzt gerade seine Strafe ab. Ich habe Angst um ihn, weil er Diabetes und Herzprobleme hat. Seine Tochter ist in der Haft gestorben. Ihr Onkel mütterlicherseits ist dort auch gestorben.
RB: Wie nehmen Sie die internationale Aufmerksamkeit für die Situation der Uiguren wahr und inwieweit sehen Sie die europäischen Länder in der Verantwortung, die uigurische Bevölkerung zu unterstützen? Welche Maßnahmen wären Ihrer Meinung nach notwendig, um die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang zu bekämpfen?
Ayup: Wir sprechen immer wieder davon, dass Menschen verhaftet werden und sterben. Ich weiß von drei uigurischen Schriftsteller*innen, die im Jahr 2023 gestorben sind. Ich kenne sie aufgrund ihrer veröffentlichten Werke, aber wir wissen nichts von so vielen einfachen Menschen, die gestorben sind. Meine Nichte wurde verhaftet und starb in den Lagern. Es gibt Tausende von Mädchen wie sie. Sie werden vergessen, weil sie keinen Onkel wie mich haben. Es ist schwer, Informationen über sie zu bekommen. Wir verlieren sie. Ich habe 15 Monate in Haft verbracht, daher weiß ich, unter welchen Bedingungen sie leben müssen. Ich habe Angst. Europäische Länder müssen sich zu Wort melden, denn sie sind Chinas größter Markt. Es werden darüber hinaus nicht nur chinesische Produkte importiert, sondern europäische Unternehmen haben Fabriken in uigurischen Regionen und profitieren direkt von der Zwangsarbeit. Auch die technische Ausrüstung, wie z.B. Kameras, die China in den Lagern einsetzt, wird von europäischen Ländern hergestellt. Die europäischen Länder tragen Verantwortung für die Situation der Uigur*innen. Sie sollten Sanktionen gegen China verhängen. China profitiert von der Arbeit, zu der Uigur*innen in den Lagern gezwungen werden. Wir sollten die chinesische Regierung den Preis für ihr Handeln zahlen lassen.
© Molly Crabapple
RB: Wie kann man die uigurische Bevölkerung aktiv unterstützen?
Ayup: Die Wähler müssen Druck auf die Politiker ausüben. Wir sollten eine Grassroot-Bewegung starten. Wir müssen in den Stadtvierteln und Schulen beginnen und von dort aus arbeiten. Jeder von uns kann eine Aktivist*in sein. Wir können an die chinesische Regierung schreiben und sie daran erinnern, dass wir sie beobachten.
RB: Glauben Sie, dass Sie jemals nach China zurückkehren werden?
Ayup: Ich möchte wirklich zurückkehren. Ich möchte zurückgehen, die Türen dieser Lager öffnen und meine Leute befreien.
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RB: Was ist Ihre Botschaft an junge Menschen in Deutschland und auf der ganzen Welt?
Ayup: Junge Menschen können Veränderungen bewirken, indem sie ihr Leben anders gestalten. Sie haben sich noch nicht festgelegt. Junge Menschen: Ihr seid ehrlich, intelligent, entschlossen und ehrgeizig. Ihr seid die Hoffnung für die Zukunft. Ihr seid die Hoffnung der Uigur*innen.
© Molly Crabapple